Stand: 10.11.2022 08:30 Uhr
Die Heizperiode hat begonnen, der Gasverbrauch steigt. Die Gasspeicher sind gut gefüllt, doch wie lange reichen die Reserven? Szenarien zeigen den Einfluss von Pipeline-Importen, LNG-Lieferungen und Einsparungen.
Es gibt eine gute Chance, ohne Gasmangellage durch den Winter zu kommen – allerdings nur, wenn Gas eingespart wird, die Importe nicht zu stark abnehmen und der Winter nicht zu kalt wird. Das zeigen Modellrechnungen des gemeinnützigen Science Media Centers (SMC).
Bereits im September hatten Datenanalysten des SMC erstmals für verschiedene Szenarien berechnet, wie sich die Gasspeicherfüllstände voraussichtlich entwickeln werden. Nun haben sie ihre Berechnungen aktualisiert, denn der Oktober war warm, die Speicher füllten sich rascher als erwartet und der Gasverbrauch war vergleichsweise gering. Das Bild, das die aktualisierten Szenarien vom Winter zeichnen, ist daher etwas entspannter. Den Gasverbrauch zu reduzieren, ist aber dennoch nötig. In den Szenarien werden unterschiedlich starke Einsparungen im Vergleich zu den Jahren 2018 bis 2021 betrachtet:
- Szenario 1: keine Einsparung
- Szenario 2: 10 Prozent Einsparung
- Szenario 3: 20 Prozent Einsparung
Jedes Szenario wurde für eher optimistische und für eher pessimistische Annahmen berechnet, die Gas-Im- und Exporte sowie die Außentemperaturen betreffend. Denn je kälter der Winter, desto mehr Gas wird verbraucht. Die folgenden Grafiken zeigen die drei SMC-Szenarien jeweils in der optimistischsten und der pessimistischsten Variante im Vergleich mit dem aktuellen Gasspeicherfüllstand.
Szenario 1: Keine Einsparung – Gasmangellage droht
Das erste Szenario zeigt: Bleibt der Gasverbrauch so hoch wie im Mittel der Jahre 2018 bis 2021, ist die Gefahr groß, dass in der Heizperiode Gas fehlt. In der pessimistischen Variante des Szenarios könnten die Speicher bereits Mitte Februar komplett leer sein. Nur wenn die Temperaturen im Winter moderat werden und der Zufluss an Gas unterm Strich recht hoch bleibt, könnte Deutschland nach diesen Berechnungen ohne Einsparungen durch die kalte Jahreszeit kommen. Die Speicher wären im Frühjahr jedoch selbst im günstigsten Fall fast leer.
Im SMC-Modell wird für jeden Monat ein Datenpunkt berechnet und nicht der tägliche Verlauf der Gasspeicher-Füllstände modelliert. Das Modell beginnt daher mit einem Datenpunkt am 1. November. Der nächste errechnete Datenpunkt ist der für den 1. Dezember. Dazwischen wird linear interpoliert, das heißt, es wird eine gerade Linie zwischen den Datenpunkten gezogen.
Szenario 2: Einsparung von zehn Prozent – Gasmangellage kann verhindert werden
Wird im Vergleich zu den Vorjahren zehn Prozent weniger Gas verbraucht, hat Deutschland diesen Berechnungen nach bessere Chancen, ohne Gas-Knappheit über den Winter zu kommen. Doch auch hier ist – wenn auch in geringerem Maß als im ersten Szenario – Voraussetzung, dass der Winter nicht zu kalt wird und das Verhältnis von Gas-Import und -Export ungefähr so bleibt wie in den letzten Monaten.
Szenario 3: Einsparung von 20 Prozent – auch bei kaltem Wetter keine Gasmangellage
Wird im Vergleich zu den Vorjahren 20 Prozent weniger Gas verbraucht, so kommt Deutschland den SMC-Berechnungen nach ohne Gasmangellage durch den Winter – selbst wenn dieser kalt und der Gas-Zustrom geringer wird. Allerdings fällt auf, dass sich die Speicher in der pessimistischen Variante des Szenarios nach der kalten Jahreszeit vorerst nicht wieder erholen.
Wichtig: Die Szenarien sind Modellrechnungen – der tatsächliche Verlauf kann und wird davon abweichen. Sie helfen aber zu verdeutlichen, auf welchem Pfad sich die Füllstände der deutschen Gasspeicher bewegen.
Welche Faktoren beeinflussen die Szenarien?
Wie sich der Füllstand der Gasspeicher im Winter entwickeln wird, hängt einerseits vom Gasverbrauch und somit von der Witterung ab. Andererseits ist die Menge des verfügbaren Gases entscheidend. Die wiederum setzt sich aus den Speichervorräten, dem Import via Pipelines und den Flüssiggas-Importen zusammen. Wie steht es aktuell um diese Faktoren und welche Annahmen werden in den obigen Szenarien getroffen?
Der Gasverbrauch von Klein- und Großverbrauchern
Die folgende Grafik zeigt den Gasverbrauch pro Kalenderwoche, aufgeschlüsselt nach Klein- und Großverbrauchern. Die Großverbraucher haben im Sommer deutlich weniger Gas verbraucht als in den Vorjahren, da wegen der sehr hohen Gaspreise Unternehmen teilweise ihre Produktion reduzieren oder zeitweise einstellen mussten. Haushalte und kleinere Gewerbekunden verbrauchten in der ersten kalten Woche Ende September zunächst mehr als in den Vorjahren. Dieser Trend setzte sich jedoch nicht fort: In den folgenden Oktoberwochen sank der Verbrauch wieder unter den Schnitt der Vorjahre.
Die obige Grafik zeigt auch: In der kalten Jahreszeit spielen die Haushalte eine wichtige Rolle. Mit 1.500 bis 2.000 Gigawattstunden pro Tag liegt ihr Verbrauch in der gleichen Größenordnung wie der der Industrie. Ob der Gasverbrauch zuletzt über oder unter dem Durchschnitt der vergangenen vier Jahre lag, ist in der folgenden Tabelle zu sehen.
Nur die Verbrauchsdaten der Großverbraucher – zum Beispiel Industrie und Kraftwerke – werden täglich gemessen (das Prinzip wird RLM genannt) und vom Gasnetz-Verantwortlichen “Trading Hub Europe” (THE) gesammelt. Der Verbrauch von Haushalten und kleineren Gewerbekunden (sogenannte SLP-Daten) kann nur indirekt bestimmt werden und unterliegt einer gewissen Unschärfe. In von der Bundesnetzagentur bereitgestellten Daten gibt es daher regelmäßig nachträgliche Korrekturen, sodass sich die obigen Werte nach Veröffentlichung noch ändern können.
Die Außentemperatur
Ein großer Teil des Erdgases wird in Deutschland zum Heizen verwendet. Da der Gasverbrauch somit direkt mit der Witterung zusammenhängt, lohnt ein Blick auf die Temperaturen des aktuellen Jahres im Vergleich mit dem Mittelwert der Vorjahre. So war der September laut den Daten des Deutschen Wetterdienstes (DWD) vergleichsweise kühl, der Oktober hingegen sehr warm.
Die Reserven in den Gasspeichern
Fast bis zum Anschlag voll – mit diesen Füllständen starten die deutschen Gasspeicher in die Heizperiode 2022/2023. Die Bundesregierung hatte den Betreibern Mindestspeicherfüllstände vorgeschrieben. Diese Zielmarken wurden bislang sogar übertroffen. So stellt sich die aktuelle Situation dar:
Ein hoher Füllstand im Herbst heißt aber noch lange nicht, dass das Gas den ganzen Winter reichen wird. Denn normalerweise ist in den deutschen Gasspeichern so viel fossile Energie gespeichert, dass Deutschland damit zwar zwei Wintermonate überbrücken kann, aber eben nicht die ganze kalte Jahreszeit.
Die Gasimporte via Pipeline
Zusätzlich zu den gefüllten Gasspeichern benötigt Deutschland kontinuierlich Importe, um über den Winter zu kommen. In der Bundesrepublik wird zwar Erdgas gefördert, aber nur in sehr geringen Mengen. Nachdem Russland die Lieferung von Erdgas gestoppt hat, kommen die Importe vor allem aus Norwegen, den Niederlanden und Belgien.
Hier nicht gezeigt werden die Gasexporte – zum Beispiel nach Polen, das ebenfalls kein Erdgas mehr aus Russland erhält. Das, was nach den Exporten übrig bleibt, wird als Netto-Import bezeichnet. Als Netto-Import wurde in den oben gezeigten Szenarien des SMC im optimistischsten Fall ein Wert von 2,2 Terawattstunden (TWh) pro Tag angenommen. Im pessimistischsten Fall rechnete das SMC mit 1,7 TWh pro Tag. Zum Vergleich: Im September und Oktober wurden im Schnitt etwa 2,45 TWh täglich importiert.
Bundesnetzagentur: Keine Gasmangellage bei 20 Prozent Einsparung
Die Bundesnetzagentur machte im Oktober ebenfalls Modellrechnungen und ging dabei davon aus, dass im Winter der Netto-Import noch geringer sein könnte als im pessismistischsten Fall, den das SMC annahm. Zum einen, so heißt es in dem entsprechenden Bericht, könnte der Import etwa aus Belgien und den Niederlanden zurückgehen, weil dort ebenfalls die Heizsaison beginnt. Zum anderen könnten die Exporte nach Süd-Osteuropa zunehmen, wenn dort der Bedarf steigt. Basierend auf ihren Berechnungen kommt die Bundesnetzagentur zu dem Schluss, dass keine Gasmangellage auftritt und die Speicher am Ende des Winters sogar zu 50 Prozent gefüllt sein könnten – vorausgesetzt es werden beim Verbrauch 20 Prozent eingespart und der Netto-Import nimmt nicht zu stark ab. Auch wenn die Annahmen etwas unterschiedlich sind, kommen die Szenarien von SMC und Bundesnetzagentur somit insgesamt zu einer ähnlichen Gesamtaussage.
Die LNG-Importe und die Kapazitäten der neuen LNG-Terminals
Neben den Importen via Pipeline wird Flüssiggas (liquified natural gas oder LNG) in Zukunft eine größere Rolle spielen. Für Anfang Januar 2023 ist die Inbetriebnahme der ersten deutschen LNG-Terminals in Brunsbüttel und Wilhelmshaven angekündigt. Mit ihnen soll verflüssigtes Erdgas entladen und in das deutsche Gasnetz eingespeist werden können. Die geplanten Terminals sollen eine Kapazität von bis zu 10 TWh pro Monat haben. Auch diese geplanten LNG-Importe haben die SMC-Datenanalysten in den oben gezeigten Szenarien mit einkalkuliert. Da noch nicht klar ist, ob die volle Kapazität der Terminals tatsächlich ab Anfang 2023 zur Verfügung stehen wird, haben die SMC-Datenanalysten in ihren Berechnungen einen etwas geringeren Wert von 8,5 TWh pro Monat angenommen.
Experte: Externe Schocks können Situation verschärfen
Wie sich Importe, Temperatur und Verbrauch am Ende wirklich entwickeln und wie nah die vom SMC berechneten Szenarien somit der Realität kommen, werden die Wintermonate zeigen. Dass Gas eingespart werden muss, sagen jedoch auch Experten, wie zum Beispiel Ben McWilliams, Energie-Experte beim europäischen Think Tank Bruegel. “Deutschland muss 15 bis 20 Prozent Erdgas einsparen, andere europäische Länder müssen weniger sparen, da sie nicht so abhängig vom Erdgas sind”, so McWilliams. “Außerdem können externe Schocks ähnlich wie die Anschläge auf die Gaspipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 die Situation verschärfen”.
Winter 2023/24: Wie können die Gasspeicher gefüllt werden?
Die große Herausforderung werde jedoch sehr wahrscheinlich der Winter 2023/24 werden. Denn eine Wiederaufnahme der Gaslieferungen aus Russland ist wenig wahrscheinlich. Und die Frage wird lauten: Mit welchem Gas sollen die Speicher im kommenden Sommer gefüllt werden? Und wie schnell kann die Industrie in Deutschland energieintensive Produktionsprozesse auf andere Energieträger umstellen?
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