Berlin (dpa) – Nach rund sechs Jahrzehnten geht in Deutschland das Zeitalter der Atomkraftwerke zu Ende. Die letzten Meiler sind abgeschaltet.
Politisch jedoch bleibt der Atomausstieg in Deutschland umstritten. Vor allem die Union hatte zuletzt das ursprünglich mitbeschlossene Aus angesichts der Weltlage für verfrüht gehalten und für einen Weiterbetreib geworben. Der Koalitionspartner FDP will die abgeschalteten AKW zumindest für Energie-Notfälle in Reserve halten – obwohl ein schnelles Wiederanfahren nicht möglich wäre und monatelange Vorbereitungen erfordern würde.
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder möchte nach eigener Darstellung Atomkraftwerke wie den abgeschalteten Meiler Isar 2 in Landesverantwortung weiter betreiben. Vom Bund verlangt er dafür eine Änderung des Atomgesetzes. «Bayern fordert deshalb vom Bund eine eigene Länderzuständigkeit für den Weiterbetrieb der Kernkraft. Solange die Krise nicht beendet und der Übergang zu den Erneuerbaren nicht gelungen ist, müssen wir bis zum Ende des Jahrzehnts jede Form von Energie nutzen», sagte er der «Bild am Sonntag». Söder dürfte wissen, dass es quasi ausgeschlossen ist, dass die Ampel-Koalition darauf eingeht. Und wenn, wäre etwa auch die Frage der Endlagerung des in Bayern weiter produzierten Atommülls gesondert zu klären.
Eigentlich hätten die drei AKW schon Ende 2022 abgeschaltet werden sollen. Die frühere Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP hatte den Ausstieg bereits 2011 als Reaktion auf die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima beschlossen. Wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der dadurch ausgelösten Energiekrise entschied die Ampel-Koalition jedoch 2022, die drei Atomkraftwerke über den Winter weiterlaufen zu lassen und erst Mitte April auszuschalten.
Entscheidung zum Atomausstieg ist umstritten
Als erstes kommerzielles Kernkraftwerk war der Meiler in Kahl in Bayern im November 1960 in Betrieb gegangen – seit Juni 1961 speiste er Strom ins Netz ein. Auch wenn die Entscheidung zum Ausstieg in Deutschland seit langem politisch besiegelt ist, schwelt die Debatte über das Für und Wider der Atomkraft weiter.
Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sagte der dpa, der Atomausstieg mache Deutschland sicherer. «Die Risiken der Atomkraft sind im Falle eines Unfalles letztlich unbeherrschbar.» Grünen-Chefin Ricarda Lang twitterte, der Atomausstieg bedeute den «endgültigen Einstieg ins Zeitalter der erneuerbaren Energien.» Die SPD-Bundestagsfraktion schrieb auf Twitter: «Atomkraft? Und Tschüss».
Hingegen forderte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai, diese Technologie nicht völlig aufzugeben. «Die Kernenergie muss auch nach dem Ausstieg eine Zukunft in Deutschland haben», sagte er der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. «Dazu gehört, dass wir die Forschung auf dem Gebiet der Kernfusion ausweiten und die Chancen neuer und sicherer Technologien der Kernspaltung nutzen.»
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagte am Freitagabend im Interview der ARD-«Tagesthemen», er glaube an eine Neuauflage der Kernenergie. «Wir spüren diese große Energiekrise, wir brauchen jedes Fitzelchen Energie.» Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) forderte mehr Forschung an neuen Technologien. «Der Ukraine-Krieg und die Energiekrise zeigen uns, dass wir uns breit aufstellen müssen. Wir müssen besonders angesichts des Atomausstiegs technologieoffen Forschung fördern. Nicht nur aussteigen, sondern auch mal einsteigen», sagte er der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».
Demonstrationen für und gegen Atomkraft
Die Umweltschutzorganisation Greenpeace feierte den Ausstieg aus der Atomenergie in Berlin. Am Brandenburger Tor zeigte sie ein rotes Männchen, das mit einem «Atomkraft? Nein Danke»-Schild und einem Schwert auf einem nachgebauten Dinosaurier stand. Auf dem Bauch des Dinos stand «Deutsche Atomkraft» und «Besiegt am 15. April 2023!».
In Berlin protestierten am Samstag aber auch einige Menschen gegen die Abschaltung der Kernkraftwerke. Der Verein Nuklearia hatte in einem Aufruf angekündigt, ein positives Zeichen für Atomkraft setzen zu wollen: «Wir sehen die Kernkraft als besten Weg, unseren Wohlstand zu erhalten und gleichzeitig die Natur und das Klima zu schützen.»
In München veranstalteten der Bund Naturschutz und Greenpeace ein Atomausstiegsfest. Zur Kundgebung kamen nach Schätzungen der Polizei rund 1000 Teilnehmer. In Baden-Württemberg feierten Hunderte Kernkraftgegner vor dem Meiler Neckarwestheim ein «Abschaltfest».
Wenige Stunden vor der Abschaltung des Kernkraftwerks Emsland forderten Atomkraftgegner in Lingen einen konsequenten Ausstieg aus der Atomindustrie in Deutschland. Am Samstag zogen Hunderte Atomkraftgegner von der Brennelementefabrik ANF, die zum französischen Framatome-Konzern gehört, zum nahe gelegenen Atomkraftwerk. Die Demonstranten freuten sich einerseits über das Ende der Nutzung der Kernenergie – andererseits forderten sie aber auch ein Aus für die Brennelementefabrik in Lingen.
Emotionen am Atomkraftwerk Isar 2
Für die Mitarbeiter des Meilers Isar 2 ist das Abschalten nach Angaben des Vorsitzenden des Konzerns PreussenElektra, Guido Knott, ein emotionaler Moment: «Heute endet nach 50 Jahren die Stromproduktion aus Kernenergie bei PreussenElektra. Das geht uns allen sehr nahe, und das macht auch mich persönlich sehr betroffen.» Der Konzern hatte mitgeteilt, dass sämtliche Mitarbeiter feste Arbeitsverträge bis 2029 erhielten. Danach soll die Mitarbeiterzahl reduziert werden. Am Standort Essenbach arbeiten rund 450 Menschen.
Grafik Letzte Atomkraftwerke
Uneinheitliches Vorgehen in Europa
Europäische Länder gehen ganz unterschiedlich mit der Atomkraft um. In Belgien sollen AKWS bis mindestens Ende 2035 weiterlaufen können. Die Schweizer Kernkraftwerke dürfen so lange betrieben werden, wie sie sicher sind. Der Bau neuer Kernkraftwerke ist verboten. Die linke Regierung Spaniens will alle Kernkraftwerke des Landes zwischen 2027 und 2035 schließen. Italien ist schon im Zuge der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (1986) aus der Kernenergie ausgestiegen.
Die Umweltorganisation Greenpeace feiert den Atomausstieg mit einer Aktion am Brandenburger Tor.Foto: Christoph Soeder/dpa