Berlin Der Wirtschaftsstandort Deutschland gerät zunehmend unter Druck. Investitionen könnten weiter ausbleiben, trotz geplanter Energiewende und industrieller Transformation. Das belegt eine Untersuchung des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW), die dem Handelsblatt vorliegt. Die Investitionen in Deutschland werden sich demnach kaum erhöhen und bis Ende 2024 lediglich um 2,2 Prozent steigen.
Vergleichswert ist das vierte Quartal 2019, also das Normalniveau ohne die Sondereffekte Coronapandemie und Ukrainekrieg. Die Zahlen beziehen sich auf die sogenannten „Anlageinvestitionen“, also Investitionen von allen Sektoren der deutschen Wirtschaft in sämtlichen Bereichen wie Maschinen, Gebäude oder Technologie.
Expertinnen und Experten raten, dringend gegenzusteuern. Denn im internationalen Vergleich der weltgrößten Volkswirtschaften fällt Deutschland bei den Investitionen seit Jahren zurück. Jetzt droht die Bundesrepublik dauerhaft Schlusslicht zu werden. In Großbritannien sollen die Investitionen bis Ende 2024 um 7,2 Prozent wachsen, in den USA um 3,7 Prozent, und in Japan um 4,2 Prozent.
„Deutschland droht in eine andauernde Investitionsschwäche zu laufen“, sagt Klaus-Jürgen Gern, Weltkonjunktur-Leiter am IfW. Die Unterschiede zu anderen Volkswirtschaften seien noch nicht dramatisch. „Von einem Warnsignal kann man aber sprechen.“
Die Zahlen dürften die Debatte weiter anheizen, wie die Bundesregierung die Standortattraktivität erhöhen kann. Die USA und China buhlen mit Subventionen um deutsche Unternehmen. Berlin will mit Staatshilfen antworten, aber auch strukturelle Verbesserungen angehen, etwa ein sichereres und schnelleres Planungsverfahren. Ökonomen fordern aber noch weitergehende Schritte.
Investitionen als zentraler Zukunftsindikator
Die konjunkturelle Lage in Deutschland ist trüb, die Wirtschaft stagniert derzeit. Zuletzt machte Hoffnung, dass die industriellen Auftragseingänge im Mai so hoch lagen wie seit fast drei Jahren nicht mehr. Doch für die langfristige Entwicklung des Wirtschaftsstandorts Deutschland sind kurzfristige Konjunkturdaten eher eine Randnotiz. Entscheidender ist, wie sich die Substanz der Wirtschaft fortentwickelt.
Und diese Substanz wird allen voran durch Investitionen erhalten – oder bröckelt, wenn diese fehlen. Letztlich geht es bei der Frage nach der Investitionstätigkeit um nicht weniger als die Frage des künftigen Wohlstands.
Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), sieht die Investitionen als den neuen zentralen Parameter für die Wirtschaftslage. Sein Blick darauf ist außerordentlich pessimistisch: „Das Investitionsverhalten – der neue Frühindikator, den wir anstelle der Arbeitslosenstatistik zukünftig im Blick haben müssen, zeigt klar nach unten.“
Zur Einordnung: Die Ergebnisse aus der Datenanalyse des IfW zu künftigen Investitionen beschwören keinesfalls den Niedergang Deutschlands. In der Bundesrepublik wird aller Voraussicht nach Jahr für Jahr mehr investiert werden.
Das Problem ist, dass dieses Plus nicht so groß ausfällt, wie es müsste. Es reicht nicht einmal, um die wirtschaftliche Substanz zu erhalten. Denn der Kapitalstock bröckelt bereits. Anlagen gehen kaputt, Technologien veralten – es braucht immer wieder Investitionen, um das Niveau des Kapitalstocks und damit die Substanz der Volkswirtschaft zu erhalten. Die Modernität des Kapitalstocks sinkt in Deutschland allerdings seit Jahrzehnten, zeigt eine aktuelle Studie des Verbands der forschenden Arzneimittelhersteller (VFA).
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Und das Plus bei den Investitionen reicht schon gar nicht, um die Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, zu bewältigen, denn die würden einen Investitionsboom notwendig machen – und keine geringen Wachstumsraten, wie sie das IfW prognostiziert.
Mehr Investitionen wären zum Beispiel gerade für die Energiewende nötig. Der Umbau der Stromproduktion zu neuen Windkraft- und Photovoltaikanlagen, die Umstellung der Industrie auf Wasserstoff und der Haushalte auf Wärmepumpen müssten sich in einem deutlichen Wachstum der Investitionen widerspiegeln, um die Klimaziele zu erreichen
Konkurrenzkampf mit China und den USA
Dass die Investitionstätigkeit in Deutschland in den vergangenen Monaten trüb war, ist nicht unbedingt überraschend. Die Energiekrise hat das Land stark getroffen. Außerdem waren während der Coronapandemie die Investitionen nicht so stark eingebrochen. Es gab danach also weniger aufzuholen.
Solarzellen
Anlagen gehen kaputt, Technologien veralten, der Kapitalstock braucht immer wieder neue Investitionen, um die Substanz der Volkswirtschaft zu erhalten.
(Foto: IMAGO/Sylvio Dittrich)
Doch die Krisen sind halbwegs überstanden. Jetzt geht es darum, wie sich die Investitionstätigkeit strukturell weiterentwickelt. Dabei ist es durchaus möglich, dass aus der Schwächephase über Jahre eine Schwächephase über eine gesamte Ära wird.
Ein Blick auf die Prognosen dämpft die Hoffnung auf Besserung in nächster Zeit. Das liegt auch an den Konkurrenten. China und die USA buhlen mit massiven Förderprogrammen auch um deutsche Unternehmen. „Das bringt uns erst recht in eine äußerst schwierige Situation“, sagt Tom Krebs, Wirtschaftsprofessor an der Universität Mannheim.
Dass die Anlageinvestitionen in den USA aktuell auch schwächeln, liegt am Wohnungsbau. „Das hat vor allem mit der Zinswende zu tun, weniger mit strukturellen Faktoren“, erklärt IfW-Ökonom Gern. Heißt auch: Es gibt Erholungspotenzial für das US-Investitionsniveau.
Die Situation in China kann ebenfalls als Alarmsignal für Deutschland gedeutet werden, auch wenn es für die Volksrepublik keine vergleichbare Prognose gibt. Trotz der schwächelnden Konjunktur hat China sein Investitionsniveau von vor den Krisen längst wieder erreicht. „Deutschland gelingt das laut unseren Prognosen frühestens Mitte 2024“, sagt Gern.
Das liegt vor allem daran, dass sich die Bauinvestitionen schlecht entwickeln. Die Investitionen in Wohnungen gehen dieses Jahr laut IfW Prognose um mehr als vier, im kommenden Jahr um drei Prozent zurück.
Bei der Ausrüstung hingegen ist ein klares Wachstum zu erwarten, erst drei dann fast sechs Prozent. Doch immer noch weniger, als man sich nach einer Zeit der Krisen wie zuletzt erhofft hatte.
Auf die Investitionen in der Breite kommt es an
Zuletzt hatte eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) eine breite Debatte um den bedrohten Standort Deutschland ausgelöst. Die IW-Untersuchung zeigte, dass im vergangenen Jahr 132 Milliarden US-Dollar mehr an Direktinvestitionen abflossen, als in Deutschland investiert wurden – ein Rekordwert.
Der Blick auf Direktinvestitionen allein sagt aber nicht viel aus, diese beinhalten mehr die Verschiebung von bestehenden Gewinnen und Krediten, weniger Investitionen in neue Maschinen oder Technologie. Außerdem fehlen beim IW die inländischen Investitionen völlig. „Zu- und Abflüsse von Direktinvestitionen haben sehr begrenzte Aussagekraft über Standortattraktivität“, sagt Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts.
Die allgemeinen Investitionsprognosen des IfW seien aussagekräftiger. „Und die zeigen: Wir sind nicht zwingend auf dem Weg in den Niedergang – aber es besteht eindeutig Grund zur Sorge.“
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Zuletzt hatten mehrere große Industrieansiedlungen Hoffnung auf eine Trendumkehr gemacht. Der Chipkonzern Intel investiert 33 Milliarden Euro in Magdeburg, der Batterieproduzent Northvolt voraussichtlich mehrere Milliarden in Schleswig-Holstein.
In den nächsten Jahren sollen Direktinvestitionen in Höhe von 56 Milliarden Euro nach Deutschland strömen, zeigt eine Aufstellung aus dem Bundeswirtschaftsministerium, die dem Handelsblatt vorliegt. Enthalten sind Industrie-Großprojekte mit einem Volumen von mehr als 100 Millionen Euro.
Das macht zumindest für den industriellen Sektor Hoffnung, und steht der angeblichen Deindustrialisierung entgegen, die die die öffentliche Debatte bestimmt. Ökonomen hingegen aber warnen vielmehr vor einem Bröckeln der allgemeinen Substanz der deutschen Wirtschaft.
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Industriepolitik, die mit Subventionen Investitionen in neue Fabriken fördert, um sich vom Ausland unabhängiger zu machen, kann daher nach Ansicht der Experten ein Teil der wirtschaftspolitischen Neuaufstellung sein. „Viel wichtiger aber ist eine allgemeine Verbesserung der Standortfaktoren, von der alle Sektoren und Unternehmensgrößen profitieren“, sagt Ifo-Präsident Fuest.
Die Vorschläge der Ökonomen
Auch daran arbeitet die Bundesregierung, sie will Bürokratie abbauen und die Infrastruktur modernisieren. Die Wirtschaftswissenschaftler fordern Berlin aber auf, noch mehr zu tun.
Christian Lindner
Der Bundesfinanzminister macht Abstriche bei der von vielen Seiten geforderten Innovationsprämie.
(Foto: Reuters)
Der Mannheimer Ökonom Krebs hält steuerliche Investitionsprämien für ein gutes Instrument, um Investitionen anzureizen. Diese hatte die Ampel bereits im Koalitionsvertrag vereinbart. Unternehmen, die in Digitalisierung und Klimaschutz investieren, soll der Staat steuerlich fördern.
Die schwierige Haushaltslage zwingt Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) aber, Abstriche zu machen. Die Investitionsprämien dürften geringer ausfallen oder sogar erst später kommen, hieß es zuletzt. „Da wäre das Geld der Steuerzahler wirklich gut eingesetzt gewesen“, sagt Krebs. Er hätte es richtig gefunden, in den Haushaltsverhandlungen Instrumente wie diese zu priorisieren.
Manuel Frondel, Energieökonom am RWI-Institut in Essen, schlägt eine Senkung der Stromsteuer vor. „Die Stromsteuer gehört schon längst auf das EU-weite Minimum reduziert — und zwar dauerhaft, um die Nachteile der Unternehmen in Deutschland im internationalen Wettbewerb zu verringern“, sagt er.
Ifo-Präsident Fuest weist seit Jahren auf die im internationalen Vergleich hohen Unternehmensteuern in Deutschland hin. Fuest fordert: „Das aus ideologischen Gründen zurückzuweisen, konnte man sich in der Vergangenheit vielleicht erlauben. Spätestens jetzt aber muss man da mit dem Blick auf Zukunftsfähigkeit des Standortes Deutschland handeln.“
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