DruckenTeilen
Die Labour-Partei hat die Parlamentswahlen in Großbritannien gewonnen. Eine Chance für neue Beziehungen – und die Wiederherstellung des Vertrauens.
Berlin/London – Mit ihrem historischen Erdrutschsieg bei der Parlamentswahl in Großbritannien ist der Labour-Party (Arbeiterpartei) gelungen, wovon ihre deutsche Schwesterpartei SPD derzeit nur zu träumen vermag. 412 von insgesamt 650 Sitzen konnte die Partei des neuen britischen Premierministers Keir Starmer ergattern – hauptsächlich durch den Wunsch der Wählerinnen und Wähler die zahlreichen Verfehlungen der vierzehn Jahre andauernden Vorherrschaft der Tories (Konservative) hinter sich zu lassen. Von der Austerität über den Brexit bis hin zum Partygate-Skandal unter Boris Johnson hätten die Briten eine „beispiellose Ära der Grausamkeit, des Chaos und der Korruption erlebt“ urteilte der Guardian. Jetzt müsse Starmer zeigen, dass er es besser mache.
Doch auch wenn sich in Umfragen seit gut drei Jahren beständig abzeichnet, dass die Menschen in Großbritannien den Austritt aus der Europäischen Union inzwischen mehrheitlich für einen Fehler halten, hat Starmer eine Rückkehr kategorisch ausgeschlossen. Er strebt weder einen Wiedereintritt in den Binnenmarkt oder die Zollunion noch eine Vereinbarung, die den Bürgern die Freizügigkeit innerhalb der EU ermöglichen würde, an. Trotzdem verspricht das Parteiprogramm von Labour, „die Handels- und Investitionsbeziehungen des Vereinigten Königreichs mit der EU zu verbessern, indem unnötige Handelshemmnisse abgebaut werden“. An den Beziehungen zur EU soll also gearbeitet werden – ein Versprechen, das die deutsche Politik hoffnungsvoll stimmt.
Labour gewinnt mit Starmer die Wahl in Großbritannien – Jetzt ein „freundlicher und konstruktiverer Ton“?
SPD-Europapolitikerin Katarina Barley begrüßte den Wahlerfolg Starmers sogleich. Sie freue sich „über die große Chance, dass nach Jahren der Spannungen mit einem Labour-Premier in London nun ein freundlicher und konstruktiverer Ton angeschlagen wird“, so Barley gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Auch wenn ein Wiedereintritt in die EU „sehr unwahrscheinlich bleibe“, sei Großbritannien ein wichtiger strategischer Partner.
Der ehemalige britische Premier Rishi Sunak (Tories) mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in Berlin. © IMAGO/Simon Walker / Avalon
Einer zukünftigen Verbesserung der bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich könnte zugutekommen, dass zwischen Labour und der SPD enge Beziehungen bestehen. Regelmäßig seien Schattenminister zu Besuch in Berlin gewesen, schreibt die Labour-nahe Zeitung Labour List. Ebenso sei ein ständiger Strom von SPD-Parlamentariern nach London gereist. Im Mittelpunkt dieser Bemühungen habe der Entwurf für eine deutsch-britische Verteidigungs- und Sicherheitspartnerschaft gestanden, der im Mai vorgestellt wurde. Beide Länder hatten damals eine engere Zusammenarbeit im Rüstungssektor angekündigt sowie über Sicherheit, Handel und weitere gemeinsame Themen wie illegale Migration beraten.
Nach Großbritannien-Wahl: Starmer könnte Scholz bald besuchen
Der Schattenverteidigungsminister der Labour-Partei, John Healey, hatte damals angekündigt, dass eine solche Zusammenarbeit unter einer Labour-Regierung noch verstärkt werden solle. Man strebe innerhalb der ersten sechs Monate der Amtszeit ein bilaterales Sicherheits- und Verteidigungsabkommen mit Deutschland an, so Healey damals gegenüber dem US-Magazin Politico. Dieses werde sich an den historischen Lancaster-House-Verträgen orientieren, die 2010 zwischen Großbritannien und Frankreich geschlossen wurden – und könne damit Teil eines umfassenderen britischen Vorstoßes zur Wiederherstellung der Beziehungen zu den europäischen Verbündeten sein.
Was sind die Lancaster-House-Verträge von 2010?
Die Lancaster-House-Verträge von 2010 sind eine Reihe von Verteidigungs- und Sicherheitsabkommen zwischen Großbritannien und Frankreich. Diese wurden am 2. November 2010 im Lancaster House in London unterzeichnet. Sie sind bedeutend für die bilaterale Zusammenarbeit in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen und beinhalten mehrere Schlüsselbereiche.
Gemeinsame Verteidigung und Sicherheit: Die Abkommen fördern eine enge Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik und die Integration von militärischen Ressourcen und Fähigkeiten zwischen den beiden Ländern. Dies umfasst gemeinsame militärische Übungen, den Austausch von militärischem Personal und die gemeinsame Nutzung von Infrastruktur.
Nukleare Zusammenarbeit: Die Verträge sehen eine verstärkte Zusammenarbeit in Bezug auf nukleare Sicherheitsfragen und die gemeinsame Nutzung von Anlagen zur Erforschung und Entwicklung von Nukleartechnologie vor.
Gemeinsame Militäroperationen und Krisenmanagement: Großbritannien und Frankreich vereinbarten, eng bei internationalen Militäroperationen und im Krisenmanagement zusammenzuarbeiten. Dies beinhaltet auch die Möglichkeit, gemeinsame Streitkräfte für bestimmte Missionen einzusetzen.
Rüstungskooperation: Die Verträge fördern die gemeinsame Entwicklung und Beschaffung von militärischer Ausrüstung und Technologie. Dies schließt Projekte wie unbemannte Luftfahrzeuge (Drohnen) und andere moderne militärische Technologien ein.
Auf diese Worte sollen offenbar Taten folgen. Starmer könne das Abkommen innerhalb weniger Wochen nach seinem Amtsantritt unterzeichnen, so zwei hochrangige EU-Diplomaten am Dienstag (2. Juli) gegenüber der Financial Times. Einem der Diplomaten zufolge sei ein Besuch des neuen britischen Premierministers bei Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in Berlin bereits im August geplant.
„Mehr politische Sachlichkeit“: Deutschland und Großbritannien könnten aufeinander zugehen
Sollte das Abkommen zustande kommen, wäre es ein erster Schritt der Annäherung – und könnte wiederherstellen, was durch die Eskapaden der Tory-Regierung verloren ging. „Nach den vergangenen Irrungen und Wirrungen des Vereinigten Königreichs bin ich überzeugt davon, dass mit Keir Starmer mehr politische Sachlichkeit einkehrt“, so der außenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Ulrich Lechte, am Donnerstag (4. Juli). Gegenüber Politico erinnerte ein deutscher Beamter daran, dass man auch früher nicht immer einer Meinung mit der Politik des Vereinigten Königreichs gewesen sei. Man habe die Briten aber stets „als vertrauenswürdige Partner angesehen“.
Es habe sich gezeigt, dass dieser Wunsch auf Gegenseitigkeit beruhe, so das Magazin. Auf der Prioritätenliste der Diplomaten, die in den letzten Monaten in beiden Ländern Szenarien ausgearbeitet hätten, stünden Verlässlichkeit und Beständigkeit an vorderster Stelle. Zwar seien die Erwartungen an die Briten gering – zum Teil wegen des Verhaltens der letzten fünf konservativen Premierminister, zum Teil, weil Großbritannien nicht mehr in der EU ist. Diese Vorsicht könne jedoch beiden Seiten zugutekommen, da sie ermögliche, in kleinen Schritten aufeinander zuzugehen. Die Bundesrepublik könne bei den Annäherungsversuchen des Vereinigten Königreichs an die EU so zum wichtigsten Verbündetet der Briten werden. (tpn)